Pünktlich zum Erscheinen des 6. Bandes im Oktober habe auch ich es nun endlich geschafft, den 5. und ehemals letzten Teil der Reihe zu lesen, an den ich mich bisher nicht herangetraut hatte, da ich mich nicht von meinen geliebten Erben verabschieden wollte. Normalerweise kann ich es gar nicht leiden, wenn eine Reihe über den eigentlichen letzten Band fortgeführt wird, aber in diesem Fall freue ich mich über alle Maße, dass es doch kein Abschied für immer geworden ist. Anlässlich des First-Reads des 5. Bandes gab es natürlich einen Reread der ganzen Reihe, zum einen, um meine Erinnerungen aufzufrischen, zum anderen, weil ich von den jungen Vampiren einfach nicht genug bekommen kann.
Kontext
Die Erben der Nacht ist definitiv kein Mainstream, auch wenn die ersten Bände zu einer Zeit veröffentlicht wurden, in der Vampire gerade in waren. Denn anstatt sich auf das Fantastische zu beschränken, gibt Frau Schweikert ihrer Vampirsaga einen faszinierenden historischen Kontext: die aufregende Welt der Menschen im Europa des späten 19. Jahrhunderts. Man kann unschwer an den vielen Anekdoten und Informationen zu Geschichte, Kultur und Zeitgeist erkennen, mit wie viel Liebe zum Detail sie diese Welt und die Handlungsorte Rom, Irland, Hamburg, Paris, Wien, Transsilvanien und London erforscht hat, um diese Zeit so authentisch wie möglich darzustellen. Allerdings muss ich gestehen, dass es hin und wieder Momente gab, in denen mir all die Informationen ein bisschen zu viel wurden und ich mich dabei ertappte, wie ich dabei war, einen Paragraphen nur zu überfliegen.
Ein tolles Erlebnis und eine absolute Bereicherung ist es außerdem, wenn man die Gelegenheit bekommt, die beschriebenen Handlungsorte einmal selbst zu besuchen und auf den Spuren der Erben zu wandeln. Seit ich Lycana und Dracas das erste Mal gelesen hatte, habe ich viel Zeit im Westen Irlands verbracht und Wien besucht. Wenn man erst mal mit eigenen Augen gesehen hat, wie schier unglaublich riesig der Palais Coburg ist, dann weiß man auch, warum die Dracas eigentlich so eingebildet und arrogant sind.
Handlung
Da die Vampire aktiv am Geschehen der Menschenwelt teilhaben, sind sie auch von deren schnell voranschreitenden Entwicklungen betroffen. Seien dies Fortschritte in Wissenschaft, Medizin und Technik, die zunehmende Neugierde der Menschen oder der allgemeine Wandel der Zeit, der an althergebrachten Traditionen nagt – sie alle machen das Leben der Vampire ein bisschen schwerer. Kein Wunder also, dass die fünf Vampirclans Nosferas, Vamalia, Pyras, Dracas, Lycana und Vyrad ihre Erben stärken und besser auf die gegebenen Umstände vorbereiten wollen, um ein Überleben der schwindenden Familien zu sichern. Aus diesem Grund wird eine Akademie ins Leben gerufen, an der die jüngsten reinblütigen Mitglieder der Clans die besonderen Fähigkeiten der anderen erlernen und von deren Wissen profitieren sollen. Denn jeder Clan hat seine ganz eigenen Einstellungen, Fähigkeiten und Schwachstellen, die sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelt haben.
Daher sind mir die Erben von allen literarischen Vampiren, die mir bisher begegnet sind, eindeutig die liebsten, da sie zur Abwechslung richtige Vampire sind: sie verbrennen in der Sonne und haben weder ein Spiegelbild noch einen Schatten. Darüber hinaus wären da noch die Panik vor Knoblauch, Weihwasser und Kruzifixen und die Vorliebe sich in Fledermäuse zu verwandeln oder ganz einfach in Luft aufzulösen. Die Akademie soll aber nicht nur Schwachstellen beheben sondern auch alte Feindschaften aus der Welt schaffen und neue – möglichst auch romantische – Verbindungen der Familien ermöglichen.
Dass die Spannung bei dem vielfältigen Aufgebot an Lehrmethoden zu den besonderen Fähigkeiten und der Kultur des jeweiligen Gastlandes nicht zu kurz kommt, ist kaum verwunderlich, zumal die Erben einfach ein besonderes Talent dafür haben, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Sie müssen sich aber auch wirklich überall mit einmischen und ignorieren generell sämtliche Regeln und Vorschriften – was für so manch eine brenzlige Situation sorgt. Denn draußen in der Welt erwarten sie Vampirjäger, feindlich gesinnte Vampire, übereifrige Wissenschaftler und ein mächtiger, mysteriöser Schatten, die zusammengewebt einen großen Handlungsbogen über die fünf Bände spannen, der sehr langsam Stück für Stück enthüllt wird und doch für einen Großteil der Spannung sorgt.
Charaktere
Die Erben
Nichtsdestotrotz lebt die Reihe in erster Linie von ihren Charakteren. Da ist es erfreulich, dass diese auch wirklich über Charakter verfügen. Zwar kommen bei der großen Anzahl an Erben einige etwas zu kurz, allerdings lernt man die meisten doch irgendwann etwas besser kennen und lieben oder hassen. So einige der jungen Vampire haben immer mal wieder ihre Finger im Spiel und sind soweit entwickelt, dass man sie nicht so schnell wieder vergisst. Jeder besitzt doch eine ganz individuelle Persönlichkeit und wächst an den neuen Fähigkeiten, den Aufgaben und Abenteuern, so dass sie sich teilweise recht überraschend über die Jahre hinweg entwickeln.
Die Hauptcharaktere unter den jungen Vampiren bilden aber ein ganz besonderes Quartett, ja, sie sind zusammen ein wahres Dreamteam, auch wenn sie sich so gut wie nie einig sind: Meine heißgeliebte Alisa de Vamalia ist ein wahrer Wildfang. Sie ist absolut wissbegierig, neugierig und talentiert und darüber hinaus so temperamentvoll, dass sie sich immer für ihre Freunde einsetzt und sie aufs schärfste verteidigt – und sich somit ständig mit meinem Liebling Franz Leopold „Leo“ de Dracas anlegt. Der scheint es allerdings als eine Art Hobby anzusehen, Alisa auf die Palme zu bringen und zu allen anderen möglichst gemein und verletzend zu sein. Er ist aber auch die Arroganz in Person – schließlich ist er reich, schön und begabt und somit etwas Besseres als der Rest. Dass er damit aber etwas überspielen will, sieht erst mal nur die sanfte, geheimnisvolle Ivy-Maire de Lycana. Während ich ihren Wolf Seymour innig liebe, so teile ich mit ihr eine Hassliebe. Sie schafft es einfach immer wieder, mich auf die Palme zu bringen. Sie ist zwar ein unglaublich interessanter und spannender Charakter, aber im Großen und Ganzen einfach viel zu perfekt. Das hält Luciano de Nosferas aber nicht ab, sie anzuhimmeln, und das, obwohl er ihrem Geheimnis bald auf die Schliche kommt. Zwar ist er pummelig, nicht sonderlich talentiert und eher weinerlich und zurückhaltend, und doch ist er ein absolut loyaler Freund zum Pferdestehlen. Im Prinzip ist er die gute Seele des Quartetts, denn obwohl er zumindest am Anfang mehr als Ballast erscheint, so ist es doch er, der die drei anderen auf ganz unterschiedliche Art und Weise zusammenhält.
Bei so unterschiedlichen Persönlichkeiten gibt es natürlich immer an irgendeiner Stelle Spannungen und oftmals mächtig Ärger, doch wenn sie sich zur Abwechslung dazu durchringen können, über ihre Differenzen hinwegzusehen und zusammenzuarbeiten, dann lassen sie sich von nichts und niemandem aufhalten. Am Ende des fünften Bandes war ich doch sehr überrascht, wie sehr sich die vier entwickelt und verändert haben, auch wenn mir manches dabei nicht gefiel.
Da die Reihe die vier von ihrem 13. bis 18. Lebensjahr begleitet, kommen zu allem Überfluss natürlich auch früher oder später die aufkeimenden Gefühle dazu, die so einiges durcheinanderbringen. Ich hatte ja von Anfang an mein Lieblingspärchen, das ich einfach nur anhimmelte und mit dem ich mal vor Freude quietschend, dann wieder vor Wut heulend mitgefiebert habe.
Nebencharaktere
Natürlich gibt es in den Clans neben den jungen auch noch einige wichtige ältere Vampire, die einen Einfluss auf die jungen Erben ausüben – oder das zumindest versuchen, denn Dank der obligatorischen Halsstarrigkeit der Erben ist das nicht immer so einfach.
Es dürfen aber auch ein paar interessante Menschen nicht fehlen. So begegnen den Erben einige illustre Gestalten, oftmals berühmte Persönlichkeiten ihrer Zeit wie Ärzte, Erfinder, Künstler, und Adelige. So manch einen dieser Starauftritte vergisst man nicht mehr so schnell, sind die Personen doch in Mythen und Legenden wiederzufinden – wenn sie auch nicht alle durch und durch menschlich sein mögen.
Doch unter all diesen Menschen stechen ein paar ganz besondere Exemplare hervor, die eine tragende Rolle im Schicksal der Erben übernehmen. Da wären z.B. die irische Druidin Tara, das junge, mutige und ebenfalls recht dickköpfige Mädchen Latona, die Nichte eines Vampirjägers, der selbst eine nicht unwichtige Rolle spielt, und der irische Schriftsteller Bram Stoker. Ganz genau, Bram Stoker. Wer also ein bisschen in der Literatur bewandert ist, kann sich denken, dass in den Erben der Nacht so einiges mehr steckt, als auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Fazit
All diese Menschen sind grundverschieden, haben ihre ganz eigenen Motive und ihr Schicksal ist auf ganz individuelle Weise mit dem der jungen Vampire verknüpft – mit unterschiedlichen, spannenden Konsequenzen. Doch sie alle haben eins gemeinsam: Sie sind von den Erben der Nacht in den Bann gezogen worden – genau wie ich! So freue ich mich also schon wahnsinnig auf ein Wiedersehen mit Alisa und Co. in Oscuri, dem sechsten Band der Reihe. Die Zeit der Akademie ist zwar nun vorbei, doch ich bin sicher, dass noch viele spannende Abenteuer auf meine Lieblingsvampire warten werden, die hoffentlich in noch ganz vielen Büchern erzählt werden. Und dann ist da noch die geplante europäische Verfilmung, die momentan laut Produktionsfirma als Serie mit 26 Folgen à 26 Minuten geplant ist. Über 11 Stunden lang meine literarischen Lieblingsvampire über den Bildschirm huschen zu sehen, wäre schon unglaublich toll!
Wer also gerade Lust auf eine etwas andere Vampirreihe hat, ist mit den Erben der Nacht bestens bedient: Hier findet man wundervoll lebendige, historisch authentische Schauplätze, einen spannenden Handlungsbogen mit einer wahren Vielfalt an abenteuerlichen Nuancen, eine Prise Herzschmerz für die Romantiker unter uns und ganz einfach sagenhaft fantastische Charaktere, die einen komplett verzaubern und durch eine Achterbahn der Gefühle jagen – von Liebe bis Hass ist alles dabei. Ich kann die Erben jedem nur wärmstens ans Herz legen – den Rest erledigen sie dann schon ganz von allein.